5. FHH-Forum

Jacques Attali (Ökonom, Schriftsteller und ehemaliger Berater von Präsident Mitterand) betonte als brillanter Redner vor allem, wie dringlich es ist, sich der Herausforderung des latenten und zunehmenden Kampfs zwischen Altruismus und Individualismus zu stellen. Sich das Leben in drei Jahrzehnten auszumalen setzt voraus, die aktuellen Ideologien und Lebensgewohnheiten, die Veränderungen strukturieren, sowie auch die demografische und technologische Entwicklung zu berücksichtigen. Während die moderne Welt ungefähr alle 25 Jahre durch neue technologische Errungenschaften revolutioniert wurde, folgen heute drei bis vier Schlag auf Schlag. Datenmanagement und Wissenspools wie das sogenannte semantische Web werden in Zukunft nicht nur Lehrern und Ärzten Konkurrenz machen, sondern könnten auch zu einer Aneignung unseres digitalen Lebens verleiten. Bald sind nicht mehr 2, sondern 80 Milliarden Geräte vernetzt! 3D revolutioniert derzeit die Fertigungsprozesse, und die Biotechnologie verändert mit einem «Zwei-in-Eins» oder «Alles-in-Einem»-Ansatz unsere Einstellung zu Ernährung, Schönheitspflege und Kosmetik. Nicht nur Medizin und Uhrmacherei nutzen Nanotechnologien, sondern auch das Militär. Die grössten Umwälzungen wie beispielsweise die Gedankenübertragung werden aber zweifelsohne von den Neurowissenschaften ausgelöst werden. Die sehr komplexen Folgen dieser Lawine von Veränderungen bestehen in einer zunehmenden Ungleichheit, weil in erster Linie Reichere von den Fortschritten profitieren.
Laut demografischen Schätzungen wird Nigeria bis Ende des Jahrhunderts China überholen. Afrika dürfte folglich der bevölkerungsreichste Kontinent werden (wobei die Zahl französischer Muttersprachler von 200 auf 700 Millionen steigt). Indien wird die grösste Wirtschaftsmacht der Welt. Jacques Attali bleibt für Europa dennoch zuversichtlich. Das Römische Reich ist nicht verschwunden, denn alle sind zu Römern geworden. Genau dies geschieht auch im Westen (den USA): Alle wollen Westler werden. Das ist langfristig aber nur mit einer Weltregierung möglich, denn ohne die gerät das Gefüge aus globalem Markt und lokaler Demokratie aus den Fugen. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die des Nachbarn beginnt. Die gegenseitigen und allgemeinen Bedürfnisse fördern den Individualismus und die Vernachlässigung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen. Der Kapitalismus ist zu ungeduldig geworden. Der Gründer der ersten Stiftung für internationale Solidarität PlaNet Finance befürwortet eine positive Wirtschaft, die die Bedürfnisse unserer Kinder und die Einrichtung einer dritten Kammer zur Wahrung der langfristigen Interessen berücksichtigt, die durch die gar zu kurzfristige Sicht von Markt und Demokratie bedroht werden.

 

Tausche Afrika gegen BRIC?
Für den Ökonomen Carlos Braga zeichnen sich im Schatten des mächtigen China bereits das hocherhobene Haupt Indiens, die breiten Schultern Afrikas und die schnelle Silhouette Südamerikas ab. Letzteres ist der einzige Kontinent, auf dem die Ungleichheiten rückläufig sind, vor allem in Brasilien. Charles Robertson geht als Experte für Schwellenländer bereits von einer Verlagerung des Wachstums von China nach Afrika aus, das Indien im Eiltempo im Kielwasser folgt. In einem halben Jahrhundert hat Afrika seiner Meinung nach das gleiche Gewicht wie Europa und die USA zusammen. Zehn der 25 Länder des Kontinents verzeichnen heute bereits das höchste Wirtschaftswachstum der vergangenen zehn Jahre. Haupttrümpfe sind der signifikante Anstieg der Lebenserwartung der Bevölkerung, die seit dem Jahr 2000 von den Regierungen eingeleiteten Reformen und der Bildungsstand, dessen Werte sich in 30 Jahren um das Dreifache verbessert haben. Infrastrukturen und grosse Handels- und Gewerbeeinrichtungen werden allerorts aus dem Boden gestampft. In China wird die Bevölkerung währenddessen immer älter und bürgerlicher, und die Produktion wandert zunehmend nach Afrika ab. Die Demografieexpertin Sarah Harper bestätigt die heute sehr niedrige Geburtenrate in Asien, weist aber auch auf die alternde Gesellschaft in Amerika und Europa hin, wo 2050 rund 30% der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein werden. Wer hätte daran gedacht, das auf 60 festgelegte Rentenalter frühzeitig anzupassen, als die Hälfte der Bevölkerung noch mit weniger als 45 Jahren verstarb? Die Gründerin des Oxford Institute of Ageing plädiert dafür, dass jeder Mensch seine Zukunft ab sofort selbst in die Hand nimmt. Zumal man heute meistens erst mit 80 Jahren auf ein Erbe hoffen kann und unser Planet bis 2100 rund 10 bis 11 Milliarden Menschen beherbergen wird, von denen 80% in Städten wohnen werden (gegenüber 50% heute).
Rory Sutherland, Spezialist für Verhaltensökonomie, behandelte ein anderes Thema, das dennoch bestimmte Parallelen aufweist. Er analysierte die Widersprüche zwischen Instinkt und Vernunft. Er mahnt zu Vorsicht vor Modellen, die zwar nützlich sein können, oft aber nicht funktionieren und manchmal sogar gefährlich sind. Der Vizepräsident der Ogilvy Group in London glaubt dennoch, bestimmte Verhaltensweisen für die kommenden zehn bis 20 Jahre vorhersagen zu können. Die meisten Menschen scheuen Veränderungen und Unsicherheit, weshalb es besser ist, sie glauben zu lassen, selbst die Wahl zu haben. In der Werbung ist es beispielsweise wichtig, höhere und niedrigere Preise indirekt zu rechtfertigen, denn das Kaufverhalten der Menschen ist oft irrational.
Die meisten Uhrenmarken haben bereits eine eigene Stiftung mit bestimmten ethischen Kriterien ins Leben gerufen. Die grössten unter ihnen wissen seit Langem, wie bedeutsam ein geografisches Gleichgewicht und eine starke Präsenz sind. Obwohl das Licht am Ende des Tunnels ab 2025 oder 2050 erkennbar sein dürfte, stellt sich paradoxerweise dennoch die Frage, wie sich die Marken in den kommenden fünf bis zehn Jahren entwickeln werden. Konfuzius sagte ja bereits: «Erfahrung ist wie eine Laterne am Rücken. Sie beleuchtet nur den Teil des Weges, der schon hinter uns liegt.» Wir können das 6. Forum kaum erwarten, um endlich über das Jahr 2020 zu debattieren.


Brice Lechevalier ist Chefredakteur und Mitbegründer von GMT (2000) sowie Skippers (2001) und leitet WorldTempus seit der Integration in das Unternehmen GMT Publishing als Ko-Aktionär. 2012 entwickelte er die Geneva Watch Tour. Seit 2011 dient er als Berater des Grand Prix d’Horlogerie de Genève. Im Bereich des Segelsports zeichnet er seit 2003 für die Veröffentlichung der Zeitschrift der Socitété Nautique de Genève verantwortlich. Er ist ferner Mitbegründer des 2009 ins Leben gerufenen SUI Sailing Awards (offizieller Schweizer Segelpreis) sowie des 2015 erstmals durchgeführten Concours d’Elégance für Motorboote des Cannes Yachting Festival.

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